Autor: Joachim Schnerf
Aus dem Französischen von Nicole Denis
Buchempfehlung kurz & knapp zusammengefasst
Nach Ausschwitz kehrt Rosa Europa den Rücken und baut sich im wilden Westen Amerikas, in Shtetl City, ihr Cabaret „Camp Camp“ auf. Es ist das Jahr 1955 und das Cabaret der Erinnerungen öffnet seine Tore.
Der Krieg ist in Europa am Ende, die Menschheit auch und die Erinnerungsarbeit beginnt.
Von da an und an jedem Tag steht Rosa auf der Bühne und berichtet die immer gleiche Geschichte: von ihrer Kindheit, ihren Eltern, die eine Bäckerei betrieben, und von ihrem kleinen Bruder, der Flucht vor den Pogromen in Polen nach Paris, ihre jungen Jahre in der französischen Metropole, von der Verhaftung, den Viehwaggons, der Selektion, ihrer Mutter am Eingang zu den Duschen. Sie wölbst sich täglich auf gegen das Vergessen, das Leugnen oder Revidieren und jede Aufführung endet mit tiefem Schweigen.
… sie benennt und wiederholt, auf das wir niemals leugnen.
Obwohl sie nur für zwei Familienanlässe nach Europa zurückkehrt, ist sie in der Familie des jüngeren Bruders stets Gesprächsthema. Besonders Samuel, ihr Großneffe, interessiert sich für sie und als er selber Vater wird, verspürt er den Drang, die Familiengeschichte für seinen Sohn auszuschreiben.
Rosa, inzwischen über 90, bewusst, dass ihre Tage gezählt sind und mir ihr die Erinnerungen der wenigen Überlebenden von Auschwitz, verspürt dennoch kein Bedürfnis ihr Schicksal mitzuteilen. Sie beschließt, dass ihr Cabaret mit ihrem Tod verbrennen soll. Nur einen kostbaren Umschlag schickt sie Samuel zu.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Es kommt nicht oft vor, dass sich beim Lesen Tränen in meinen Augen sammeln, doch was Joachim Schnerf in seinem Roman „Das Cabaret der Erinnerungen“ in Worten auszudrücken vermag, füllt mein Herz mit unendlicher Traurigkeit.
Die Düsternis jener Monate in der Hölle, das Leid einer Frau, die nur durch den Verlust ihrer moralischen, menschlichen und lebenswichtigen Grundsätze am Leben gehalten wurde.
Es ist unglaublich, wie in weniger als 120 Seiten so viel gesagt werden kann, wie es Schnerf gelingt, die Ungeheuerlichkeit, das Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung während des 2. Weltkrieges in mein Gedächtnis zu rufen. Keiner kann sich der Gräueltaten entziehen, ich zumindest empfinde tiefste Scham und Angst vor dem was Rosa widerfahren ist. Und ich verstehe, warum Samuel diese Geschichte unbedingt weitererzählen möchte, damit nicht versiege, was der Mensch imstande ist, wenn die Dunkelheit die Menschlichkeit besiegt.
Die Hebamme verwandelte sich in eine Engelsmacherin, mit oder ohne Zustimmung der Patientin, und Rosa wurde ihre Assistentin.
Die eindringliche und schmerzhafte Schilderung von Rosas Schicksal unterbrich Schnerf mit einer Episode aus der Kindheit. Drei Kinder, Samuel, seine Schwester und der Cousin machen sich eines Nachmittags auf die Suche nach Rosa. Die drei Cowboys sind unterwegs nach Shetl City und wollen Rosa in ihrem Cabaret besuchen. Dabei erleben sie in ihrer Phantasie kleine Abenteuer bis sie im rettenden Saloon ankommen.
Erst gegen Ende des Buches wende ich meine Aufmerksamkeit auf das Wort „Shtetl“. Die Bezeichnung steht für Siedlungen mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil im Siedlungsbereich der Juden in Osteuropa vor dem Zweiten Weltkrieg. Rosa hat in der Wüste eine zarte Verbindung zu ihre Heimat Polen aufgebaut.
Fazit
Das Cabaret der Erinnerungen ist ein sehr intensives, kurzes Büchlein gegen das Vergessen und für die Menschlichkeit. Trotz der prägnanten Erzählung über eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren europäischen Geschichte ist nichts Anklagendes geschrieben und kein Hass zu lesen, sondern einfach nur des Menschen ureigenster Drang zu überleben.

Ihre Albträume sind nicht nur voller Leichen. Rosa wird vom Leben verfolgt, von den Entscheidungen, die ihr das Zurückkommen unter die Lebenden ermöglicht haben.
Der Autor
Joachim Schnerf, geb. 1987 in Strasbourg, ist Schriftsteller und Lektor für internationale Literatur in Paris. »Wir waren eine gute Erfindung« (2019) wurde in Frankreich mit mehreren Preisen ausgezeichnet. »Das Cabaret der Erinnerungen« ist sein dritter Roman. Quelle Antje Kunstmann Verlag
Die Übersetzerin
Nicola Denis wurde 1972 im niedersächsischen Celle geboren. Nach einem Sprachaufenthalt in Paris 1991/1992 studierte sie in Köln Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik. Auf die Magisterarbeit zu verschiedenen Übersetzungen von Molières Misanthrope 1997 folgte 2001 die Promotion. Seit 1995 lebt sie zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Westfrankreich. Sie arbeitet seit 2002 hauptberuflich als Literaturübersetzerin.
2022 erschien im Klett-Cotta Verlag ihr Debütroman „Die Tanten“, eine liebevolle literarische Zeichnung der vier Tanten der Autorin, eingeflochten in die Gesellschaft des letzten Jahrhunderts. Lesen Sie gerne dazu meine Rezension auf LovelyBooks.
Alles zu Nicola Denis finden Sie auf ihrer Website.
Bibliographische Daten (Stand März 2023- – Antje Kunstmann Verlag)
- TITEL: Das Cabaret der Erinnerungen
- AUTOR: Joachim Schnerf
- ÜBERSETZERIN: Nicola Denis
- GENRE: Roman
- VERLAG: Antje Kunstmann Verlag
- UMFANG: 124 Seiten
- ERSCHEINUNGSDATUM: 16. Februar 2023
- ISBN-13: 978 3 9561 4534 6
Zum Thema Shoa finden Sie in meinem Blog die Buchbesprechung des Romans „Requiem“ von Alfred Karl Loeser.
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