Autor: Tarjei Vesaas
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Buchbeschreibung kurz & knapp zusammengefasst
Ein Mord geschieht auf einer paradiesisch schönen Insel. Ein Fremder hat die schwere Tat begangen, in einem Moment des Wahnsinns. Er kam auf die Insel, um sich selbst zu retten vor den Erinnerungen an ein schweres Unglück. Dies ist der Keim einer schweren Schuld, die die Inselbewohner auf sich laden.
Klick hatte es gemacht, dort drinnen wo er seine Gedanken kontrollierte. Ein Aufblitzen von bösem Licht, dann nichts mehr. Dunkelheit.
Sofort wird die Tat entdeckt, doch den Täter fangen und ihn der Polizei zu übergeben, kommt nicht in Frage, denn das würde den Tod der jungen Frau und Schwester nicht stillen. Angeführt vom Bruder macht sich fast die ganze Inselbevölkerung auf zur Treibjagd auf den Mörder. Als sie ihn finden und umstellen, verwandelt sich die Schar in eine grausame Meute, die in einer kollektiven Raserei Selbstjustiz vollzieht.
„Man muss wohl eher sagen, dass alle mitgetan haben. Als ich dazukam, waren alle über dem Mann. Er war unter einem ganzen Haufen begraben. Ich habe nicht gewusst, dass auf dieser Insel so eine Brutalität möglich ist.“
Noch am selben Abend versammeln sich die Inselbewohner in der Scheune von Karl Li, dem Vater der getöteten Tochter und dem Bruder, der ihretwegen zum Mörder wurde.
Meine persönlichen Leseeindrücke zu „Der Keim“
Ich habe erst vor ein paar Wochen Hamsun gelesen und komme nicht umhin, beide Schriftsteller miteinander zu vergleichen. Im Unterschied zu Hamsun drückt Vesaas in seinem Roman „Der Keim“ klar aus, was er mitteilen will. Er vermittelt seine Botschaft härter und schonungsloser und öffnet die Tür zu den seelischen Abgründen seiner Protagonisten. Das ist harte Kost!
Der Roman „Der Keim“, nicht sehr umfangreich, ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten werden die Insel und einige Inselbewohnen vorgestellt. Die Insel ist ein paradiesischer Ort, die eines Tages Besuch von einen schönen, fremden Mann bekommt. Er ist hier, um Frieden zu finden. Doch er ist geisteskrank, ein Irrer, der einen Mord begeht. Was darauf folgt, ist die eigentliche Tragödie. Menschen mit gesundem Menschenverstand verlieren ihre Beherrschung und verwandeln sich im Kollektivzwang zu einem Tier, das in besinnungsloser Rache tötet. Alles Rationelle wird ausgeschaltet, nur das Bedürfnis nach Rache leitet eine ganze Inselgemeinschaft.
Nach der zweiten schweren Tat folgt die Ernüchterung. Das Gewissen, das für kurze Zeit ausgeschaltet war, tritt wieder in Kraft und mit ihm die Erkenntnis, etwas Unverzeihliches verübt zu haben. Viele kommen zur Besinnung und erkennen mit Entsetzten, was sie getan haben. Ab nun müssen sie mit der Bürde, die die Tat auf ihre Schultern gelegt hat, weiterleben.
Man musste es mit sich selbst ausmachen, ohne Hilfe.
Der Vater der getöteten Tochter und des Sohnes Rolv, der ihretwegen zum Mörder geworden ist, kann die Tat nicht verzeihen. Rolv verlangt seinen Segen für sein Handeln, aber der Vater verwehrt es ihm. Zu schwer wiegt die Tatsache, dass der Fremde im Wahn gehandelt hat, Rolv sich aber seinem Wahn hingegeben und getötet hat.
„Der Keim“ ist ein Inselroman – und eben darin ein Gesellschafsroman, dass er auf engstem Raum die Frage verhandelt, ob und wie sich der größte anzunehmende Störfalll – der gewaltsame Tod von zwei Menschen – zumindest soweit regulieren lässt, dass er das Zusammenleben der Beteiligten nicht für alle Zeit ruiniert. -Nachwort von Michale Kumpfmüller, Dezember 2022
Fazit
Der Roman „Der Keim“ von Tarjei Vesaas behandelt den gewaltsamen Tod eines jungen Mädchens auf einer paradiesisch schönen Insel. Der Mord führt unvermeidlich zu einem zweiten, und eine ganze Insel lädt Schuld auf sich. Mit diesem Meisterwerk warf Vesaas einen unverhohlenen Blick auf die norwegische Gesellschaft zu Beginn des 2. Weltkrieges, als die deutschen Soldaten in das Land einmarschierten.

Das Zuhause bietet den richtigen Schutz. Sünde und Trauer und Scham und alles – das ist zu Hause gut aufgehoben. Ohne dass es das Zuhause schmälert.
Der Autor
Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemäße Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und ließ sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Großstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine größten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete. Quelle: Guggolz Verlag
Der Übersetzer
Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden. Quelle: Guggolz Verlag
Bibliographische Daten (Stand September 2023 – Guggolz Verlag)
- TITEL: Der Keim
- AUTOR: Tarjei Vesaas
- ÜBERSETZER: Hinrich Schmidt Henkel
- GENRE: Roman
- VERLAG: Guggolz Verlag
- UMFANG: 240 Seiten
- ERSCHEINUNGSDATUM: 28. Februar 2023
- ISBN-13: 978 3 9453 7039 1
Zum Thema Selbstjustiz vermerke ich gerne auf die großartige Novelle „Andrea Delfin“ von Literaturnobelpreisträger Paul Heyse.
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