Autor: Farhad Bitani
Das afghanische Volk trägt in seinem Herzen einen schwarzer Klumpen von Schmerz und Farhad Bitani kennt dieses Gefühl. Es ist die Frucht eines Giftes, das sie zu lange geschluckt haben und das so vertraut schmeckt, dass es wie fließendes Wasser durch sie Seele rinnt. Er selbst hat als Kind die Ruchlosigkeit erlebt und gelebt, sie hat ihn jahrelang vergiftet, bis er den Mut fand, sie loszuwerden. Jetzt erzählt er all dies in einem Buch: L’ultimo lenzuolo bianco (The last white sheet – The Hell and the Heart of Afghanistan).
Das Buch ist in deutscher Sprache nicht erhältlich. Dennoch habe ich mich entschlossen, es hier zu vorzustellen und möchte alle einladen es auf Italienisch oder Englisch zu lesen.
Buchbeschreibung kurz & knapp zusammengefasst
In diesem Buch geht es im Wesentlichen um die Geschichte des Autors. Er erzählt von seinem Leben als Sohn eines mächtigen Mujaheddin Generals und seiner Erziehung, in einem Land, in dem die Demokratie nur eine Fassade ist.
Er beschreibt den Weg eines Menschen, der vom Bösen umzingelt und von einem menschenverachtenden Umfeld mitgesogen als Junge so tut, als sei er begeistert von den tagtäglichen Gräueltaten.
Auch normale Menschen können zu Bestien werden.
Die zwanghafte und instrumentelle Wiederholung des Korans, in einer Sprache geschrieben und gelehrt, die nicht zum afghanischen Volk gehört, das Spektakel der öffentlichen Hinrichtungen, der verwehrte Zugang zu Informations- und Unterhaltungsquellen haben ihm und seinem Volk die Urteilsfähigkeit und -freiheit so weit genommen, dass es zu einem Schatten seiner selbst wird.
Die Taliban wollten nicht, dass wir eine Bildung erhalten, denn nur so konnten sie uns weiterhin unterdrücken und uns ihre Herrschaft aufzwingen.
Es wird seine Mutter sein, die seine Seele retten kann:
Solange im schwarzen Herzen noch ein winzig kleiner weißer Flecken ist, besteht Hoffnung.
Und so beginnt mit seiner Ankunft in Italien sein zweites Leben, das eines Mannes, der sich heute zwar nicht von den Erinnerungen, wohl aber von der Angst befreit hat. Und diese Befreiung hat sich durch das schmerzhafte Schreiben dieses Buches ergeben.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Das Taliban-Regime*, das mit menschenverachtender Grausamkeiten in Afghanistan wütet und nach dem Abzug der Westmächte medienwirksam die Macht über Afghanistan übernommen hat, ist der Auslöser für diese Buchempfehlung.
Ich war zutiefst geschockt, wie widerstandslos sich die von westlichen Militärs und Milliarden von Euro und Dollar verschlingenden ausgebildeten Soldaten des afghanischen Heers sich den neuen alten Herrschern ergeben hatten und wollte verstehen. Es war mein Mann, der mir dieses Buch auf mein Nachttischchen legte und sagte, „Lies es!“.
Mit dramatischer Kraft und an vielen Stellen auch mit Reue geschrieben, erfahre ich hier Unvorstellbares von einem Land und einem Volk, das sich einem Terrorregime ergeben hat. Die Angststarre, die brutale Gewalt, der Umgang mit dem eigenen Volk in dem der Mensch kein Mensch mehr ist, die Misogynie, die Islam-Doktrin, all dem können die ethnischen Volksgruppen in Afghanistan nichts entgegenstemmen und sind verdammt zu leiden, zu hungern, zu fürchten.
Den Taliban ist es gelungen, Afghanistan nicht nur durch die Anwendung von Gewalt zu unterwerfen, sondern auch durch ihre Fähigkeit, in die Köpfe der Menschen einzudringen und sie zu beherrschen.
Man darf auch nicht die Rolle des Islam unterschätzen. Die Pflicht in die Koranschule zu gehen und den Koran auswendig zu lernen, in einer Sprache, die man nicht versteht, ist eines der wirksamsten Unterdrückungsmittel überhaupt.
Dank der Wirtschaftshilfe ausländischer Mächte, zunächst Pakistan und später Saudi-Arabien, sind diese Schulen vor allem im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gewachsen.
*Die Taliban sind eine politische und militärische Organisation mit einer islamisch-fundamentalistischen Ideologie, die in Afghanistan und im benachbarten Pakistan präsent ist. Die Taliban haben sich als politische und militärische Bewegung zur Verteidigung Afghanistans im Guerillakrieg nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Protektorats entwickelt und sind als Träger eines politisch-religiösen Ideals bekannt, das alle kulturellen, sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Elemente des Islam zurückgewinnen möchte, um ein Emirat zu errichten. Nach einem blutigen Bürgerkrieg, in dem sie sich gegen Tadschiken und Usbeken durchsetzen, regierten die Taliban von 1996 bis 2001 den größten Teil Afghanistans (mit Ausnahme der westlichsten und nördlichsten Regionen). Am 15. August 2021 kehrten sie zurück und übernahmen die Kontrolle über das Land.
Fazit
„L’ultimo lenzuolo bianco“ ist kraftvoll und gnadenlos, wie es nur die Realität und die Wahrheit sein können. Es ist ein lebendiger Bericht, der es versteht, Leid und grausame Ungerechtigkeit zu vermitteln. Es ist stark und schmerzhaft und erzählt von Afghanistan, wie wir es nicht kennen. Und es ist vor allem ein notwendiges Buch.

In Afghanistan herrschen die Taliban wie Löwen in einem Käfig voller Vögel.
Der Autor
Farhad Bitani ist ein afghanischer Schriftsteller und der letzte Sohn eines afghanischen Armeegenerals. Er diente während der ISAF-Mission als Offizier in der Armee seines Landes und schied 2012 aus der Armee aus, um sich der Förderung des Friedens und des interreligiösen und interkulturellen Dialogs zu widmen. Er ist einer der Gründer des Global Afghan Forum (GAF). Seine Autobiografie „L’ultimo lenzuolo bianco“ ist bei Neri Pozza (2020) erschienen.
Im Jahr 2011 wurde er während seines Urlaubs in Afghanistan von einem Taliban-Kommando angegriffen. Nachdem er den Angriff wie durch ein Wunder überlebte, begann er über sein Leben nachzudenken, was ihn zu einer radikalen Veränderung veranlasste: Er legte die Waffen nieder und suchte und fand Asyl in Italien.
Über Afghanistan gibt es mehrere Bücher in meinem Blog, aber keines erzählt und erklärt so deutlich und eindrucksvoll.
IM WINTER SCHNEE, NACHTS STERNE von Fabio Geda und Enaiatollah Akbari
FREITAG IST EIN GUTER TAG ZUM FLÜCHTEN von Elyas Jamalzadeh & Andreas Hepp
Leave A Reply